Freiheit und Verantwortung - Ist Fliegen wirklich Freiheit?
Daniel Dahlhaus, climactivity
„Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“ – Viktor Frankl
„Keiner kann anders als er ist. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden.“ – Wolf Singer
Die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens beschäftigt die Menschheit seit langer Zeit. Damit geht auch die Frage nach der Verantwortung einher, die mensch für sein Handeln trägt. Die Klimakrise zwingt uns, diesen Fragen wieder allerhöchste Priorität zu geben.
Die Prämisse: Der Mensch ist ausreichend frei, um etwas zu ändern
Die eingangs zitierte Aussage von Wolf Singer, man solle die Idee der Freiheit aufgeben, ist eine in den Neurowissenschaften zu findende, überspitzte These. Ihr gehen Experimente und Überlegungen voraus, die darauf hindeuten, dass im Gehirn biologische Grenzen für die Wahlfreiheit von Menschen existieren.
Die These ist deshalb überspitzt, weil auch die Mehrheit der Neurowissenschaftler:innen nicht behauptet, es gäbe überhaupt keinen freien Willen. Die Schlussfolgerung ist eher, dass nicht jeder Mensch zu jeder Zeit in jedem Kontext dieselben Fähigkeiten hat, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Viele Faktoren wie Bildung, Geschlecht, materielle Absicherung oder Umgang mit Emotionen tragen zur Entscheidungsfähigkeit von Menschen bei. Andersherum können Menschen diese Faktoren je nach ihrer individuellen Lebenslage entweder mehr oder weniger gut beeinflussen und verbessern.
Ein Mensch in einem sehr armen oder konfliktgeplagten Land mit existenziellen Problemen hat schlichtweg nicht die Möglichkeit, höhere akademische Bildung zu erlangen, Yoga zur emotionalen Stabilität zu praktizieren oder die kulturellen oder materiellen Bedingungen in seinem Umfeld zu ändern, die möglicherweise zu Diskriminierung aufgrund von Religion, Geschlecht oder anderer Merkmale führen. Seine existenziellen Probleme lassen für ihn Bedürfnisse wie Geschäfts- oder Urlaubsreisen mit dem Flugzeug gar nicht erst entstehen, geschweige denn zur Erfüllung bringen.
Wer trägt Verantwortung und wer kann sie wahrnehmen?
Auf die Klimakrise bezogen kann ein existenziell bedrohter Mensch nicht nur das Problem schlechter lösen, weil Bildung fehlt, sondern auch deshalb, weil er von vornherein kaum zu dem Problem beiträgt. Er kann nicht weniger Fliegen oder Autofahren. Für politisches Engagement fehlt ihm, selbst wenn die lebensbedrohlichen Sorgen gelöst werden, die Stimme – oder anders gesagt fehlt den problemverursachenden Gesellschaften das offene, empathische Ohr.
Hier wird schnell ersichtlich, dass die Verantwortung aus mindestens zwei Gründen bei den früh industrialisierten Gesellschaften liegen muss: Zum einen sind sie Hauptverursacher des Problems und zum anderen haben sie die nötigen Lebensbedingungen – und somit die nötige Freiheit – Veränderungen durchzuführen.
Ist Fliegen wirklich Freiheit?
Frei, wie ein Vogel. Das Fliegen ist Symbol für Freiheit. Die Sache ist bloß, dass der Vogel nicht das Klima seiner Heimat gefährdet. Natürlich hat das Fliegen für die Menschheit großartige Möglichkeiten geschaffen, sich zu vernetzen und Erfahrungen zu machen, die sonst niemals so vielen möglich gewesen wären. Ein erfüllter Reisewunsch kann positive Effekte bringen. Menschen können Neues kennenlernen und Kontakte knüpfen. Toleranz und Offenheit können begünstigt werden. Aber ist in unserer globalisierten, digitalisierten Welt wirklich noch so großer Aufwand mit so schädlichen Konsequenzen nötig, um das zu erreichen? Und widerspricht der angerichtete Schaden durch das Fliegen nicht ganz offensichtlich den genannten positiven Potenzialen?
Empathie und Erlebnisse brauchen kein Flugzeug
Wenn Flugreisen tatsächlich der einzige Weg wären, Toleranz und Mitgefühl für andere Menschen zu entwickeln oder Natur und Kultur zu erleben, dann würden wir in einem furchtbaren Dilemma stecken. Zum Glück ist dies nachweislich nicht der Fall. Selbst geschäftliche Treffen zwingen nicht zum Fliegen, wie die Pandemie gezeigt hat. Milliarden von Menschen sind digital vernetzt. Die natürliche und kulturelle Vielfalt im eigenen Land und den Nachbarländern ist kaum jemandem in Gänze bekannt.
Gerechtigkeit ist nicht allein etwas, das von Institutionen definiert und durchgesetzt wird. Es ist ebenso wichtig, sich als Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten gerecht zu verhalten. Dazu ist Empathie als Grundlage für eine gerechte Gesellschaft essenziell. Und diese Empathie muss in drei Richtungen gehen:
- Offensichtlich muss sie auf diejenigen gerichtet sein, die unter der Klimakatastrophe am stärksten leiden und selbst am wenigsten dagegen tun können.
- Doch auch denjenigen privilegierten Menschen, die aus Ignoranz, Arroganz oder Rücksichtslosigkeit weiterhin Schaden anrichten und sich nicht an den notwendigen Veränderungen beteiligen wollen oder können, muss mit Empathie begegnet werden.
- Nicht zuletzt ist Empathie sich selbst gegenüber wichtig. Schuldgefühle und Selbstkritik mobilisieren keine Energien für Veränderung. Dabei darf aber der ehrliche Blick nicht vergessen werden.
Niemand ist unser Feind, wir sind alle aufeinander angewiesen
Auch wenn das Verhalten von Menschen, die ihre Freiheit so definieren und leben, dass diese die Freiheit anderer Menschen ohne Mittel einschränkt, sehr ärgerlich sein kann – besonders, wenn mensch selbst viel Energie in positive Veränderungen steckt oder nah am Leid der Betroffenen ist – ist es kontraproduktiv, diese Menschen als Feinde anzusehen und ihnen dem Kampf anzusagen.
Nützlicher und auch sachlich treffender ist es, zu erkennen, dass die Bewertungen und das Verhalten dieser Menschen noch unreif und ungeschickt sind. Oft hört man, einige seien „zu dumm, es zu kapieren“. Das ist eine Vereinfachung und Fehleinschätzung, denn der Intellekt ist hier nicht allein ausschlaggebend. Empathie ist deutlich komplexer.
Ohne sich dabei selbst arrogant über andere zu erheben, kann eine empathischere Sichtweise dazu führen, eigene Frustrationen und Ärgernisse abzubauen und mehr Energie für die eigenen Veränderungen und die positive Einflussnahme auf die Gesellschaft zu erhalten.
Niemand inspiriert besser, als eine zufriedene Person, die selbst das Verhalten vorlebt, welches sie gern bei anderen sehen würde.
Empathie ist die höchste Form der Freiheit
Der konsumorientierten Gesellschaft, in der das Individuum sehr hoch bewertet wird, liegt eine gefährliche Deutung von Freiheit zugrunde: Freiheit als Recht und Möglichkeit für alle, jegliche Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei ist es doch offensichtlich, dass diese Art von Freiheit immer nur einer begrenzten Gruppe zugänglich sein kann und selbst für diese ihre Grenzen in den Ressourcen des Planeten hat. Dieses Konstrukt ist das genaue Gegenteil von Freiheit. Es ist Abhängigkeit, die zu Ungerechtigkeit und Ausbeutung führt. Macht diese falsche Freiheit diejenigen Menschen wirklich glücklich, die sie genießen?
Eingangs wird Viktor Frankl zitiert: Der Mensch habe letztlich die Freiheit der Wahl seiner Einstellung zu den Dingen. Diese Freiheit ist sicherlich sehr schwierig umzusetzen, aber im Vergleich zur selbstbezogenen Freiheit der Sinnesfreuden ist sie unendlich menschlicher und absolut notwendig, um unsere Zukunft zu retten.
Echte Freiheit heißt, empathisch zu leben. Mitgefühl für diejenigen zu haben, die über weniger Möglichkeiten verfügen. Dankbarkeit für die eigene Wahlfreiheit zu entwickeln. Wirklich frei zu wählen, mit Sinn und Verstand. Sich nicht seiner Abhängigkeit von extravaganten Erlebnissen oder Konsumgütern hinzugeben.
Der Geist kann freier sein, als jeder Vogel. Er kann in die Höhen menschlichen Zusammenhalts untereinander und mit allen Lebensformen fliegen. Und ein solcher freier Geist unterscheidet nicht zwischen Freiheit und Verantwortung, sondern erkennt die Einheit dieser beiden Ideen.
Freiheit bringt Verantwortung und nur durch Verantwortung kann Freiheit entstehen.