Die aktuelle Energiekrise – ein Strafzettel für verschlafenen Klimaschutz
Uli F Wischnath, Programmkoordinator climactivity, 29.09.2022
Aktuell macht sich in Anbetracht von Energiepreisen, die nie gekannte Höhen erreichen, wahrscheinlich so ziemlich jed:er Gedanken darum, wie teuer der nächste Winter wird. Für die Frage, was jetzt zu tun ist, ist es nicht ganz unwichtig, darauf zu schauen, wie es dazu kommen konnte. Die Antwort lautet meistens: „Wir haben uns viel zu sehr von russischem Öl und Gas abhängig gemacht.“ Das lässt sich kaum bestreiten. Aber was wären die Alternativen gewesen? Viele beklagen jetzt, dass der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Atom ein Fehler gewesen wäre oder dass es besser gewesen wäre, mehr Flüssiggas (LNG) aus fragwürdigen Fracking-Lagerstätten zu importieren als auf North Stream 2 zu setzen. Aber eine entscheidende Frage höre ich ganz selten: „Warum nur haben wir es verpasst, uns selber mit regenerativer Energie zu versorgen?“
Es war einmal vor gar nicht langer Zeit
Schauen wir mal zurück zur Jahrtausendwende: Kurz zuvor ist im Jahr 1998 die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene ins Amt gekommen und vereinbart im Jahr 2000 mit den Atomkraftwerkbetreibern den Ausstieg aus der Atomenergie bis spätestens 2020. Obwohl es schon seit dem Erdgipfel in Rio im Jahr 1992 eine Klimarahmenkonvention gab, ist ein Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas zur Zeit der Jahrtausendwende kein Thema mit nennenswertem politischen Gewicht. Die Klimaziele sollen mit dem Ausbau erneuerbarer Energien und Energieeffizienz erreicht werden. 2000 wird dementsprechend das erste Erneuerbare Energien Gesetz erlassen und dieses löst einen kräftigen Boom beim Bau von Windkraft- und Solaranlagen aus. Im Gebäudebereich wird die Wärmeschutzverordnung in eine Energieeinsparverordnung überführt, die an der Primärenergie-Einsparung orientiert, und im Energiesektor wird der Ausbau der sehr viel effizienteren Kraft-Wärme-Kopplungs-Kraftwerke voran getrieben. Passend dazu stellt VW 1999 den Lupo 3L vor, das erste serienmäßig gebaute 3-Liter-Auto.
Zarte Pflänzchen, die unter Räder kommen
Wären diese Ansätze konsequent verfolgt und weiter entwickelt worden, dann könnten schon heute die meisten Menschen in gut isolierten Häusern wohnen, deren Energiebedarf sich leichter decken ließe. Wir hätten auch sehr viel mehr Strom aus erneuerbaren Energien und wären damit unabhängiger von den Kosten, die sich derzeit aus der Knappheit fossiler Energieträger und den fehlenden russischen Gaslieferungen ergeben.
Aber statt dem 3-Liter-Auto hat sich in den letzten 20 Jahren der sprithungrige SUV als häufigstes zugelassenes Fahrzeug durchgesetzt und zu den damals schon 43 Millionen PKW sind noch mal 4 Millionen dazu gekommen.
Die Energieeinsparverordnung wurde zwar weiter verschärft, aber es wurde verpasst, dafür zu sorgen, dass nicht nur neue Häuser wenig Energie benötigen, sondern auch der Bestand saniert wird. Es ist seit langer Zeiten klar, dass wir viel höhere Sanierungsraten bräuchten, um die Klimaziele zu schaffen. Wären in den letzten zehn Jahren statt nur einem Prozent jährlich drei Prozent der Häuser saniert worden, dann wären heute weitere 20 % des Wohnungsbestands schon saniert und sie wären vielleicht schon mit einer Wärmepumpe ausgestattet worden, die sich bei sanierten Häusern als Heizung ja anbietet. Das würde uns eine Menge Gas sparen!
Und der ganz große Sündenfall ist das Abwürgen des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Mit der EEG-Novelle von 2012 wurde die Photovoltaik-Installation um 80 % reduziert. Durch eine Verhinderungspolitik wurde der Zubau von Windenergie an Land von zwischenzeitlich 5 GW im Jahr 2017 auf nur noch 1,5 GW im Schnitt der letzten 4 Jahre zurecht gestutzt. Wenn hier vor zehn Jahren die Weichen anders gestellt worden wären, dann könnten wir heute schon ganze drei Viertel des Stroms mit erneuerbaren Energien produzieren, statt aktuell nur gut 40 %. Dann gäbe es auch keinen Grund, sich Gedanken über das bisschen Strom zu machen, was sich mit dem Weiterlaufen von den drei Atomkraftwerken noch erzeugen ließe.
Natürlich wären damit nicht alle Probleme gelöst: Gas wird viel zum Heizen eingesetzt und kann da nicht so leicht durch einen anderen Energieträger ersetzt werden. Das gleiche gilt für einige industrielle Prozesse. Aber wenn eine konsequente Umsteuerung auf erneuerbare Energien vorgenommen worden wäre und die Ideen der Energieeffizienz wirklich ernsthaft verfolgt worden wären, dann hätten wir jetzt viel weniger Probleme.
Und nun? Eine andere Politik ist möglich!
Klimaschutz, das betonen wir bei climactivity immer wieder, ist an vielen Stellen ein Weg zu einem guten, manchmal sogar besseren Leben. Das Umsteuern auf erneuerbare Energien, die im eigenen Land hergestellt wurden, bringt eine Unabhängigkeit in Energiefragen und eine Menge weiterer Verbesserungen mit sich. Aber leider gehen die jetzt angebahnten Lösungen auch nicht konsequent in diese Richtung. Derzeit wird mit dem Scheich von Katar darüber geredet, wie wir von dort ab sofort Gas und später grünen Wasserstoff bekommen können. Aber während es offenbar möglich ist, LNG-Terminals fast schon über Nacht zu errichten, ist ein Sofortprogramm für den Bau von sagen wir mal 2000 Windrädern im nächsten Jahr noch nicht aufgelegt worden. Das ist nicht so unrealistisch, wie es vielleicht klingen mag: Es befinden sich derzeit Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 10 GW, also weit mehr als 2000 Stück, in noch nicht abgeschlossenen Genehmigungsverfahren1 und eine solche Anzahl von Anlagen ist im Jahr 2017 in Deutschland schon mal errichtet worden. Stattdessen wird unsere Abhängigkeit von fraglichen Lieferanten beibehalten und noch ins Zeitalter der Erneuerbaren fortgesetzt.
Die Fehler der Vergangenheit lassen sich nicht zurückdrehen und bringen nun viele Menschen in eine Bedrängnis, deren Ausmaß mit einer konsequenteren Klimaschutz-Politik sehr viel kleiner wäre. Auch wenn diese Feststellung niemandem nutzt, der/die nicht weiß, wie er/sie den nächsten Winter überstehen soll, ist es trotzdem wichtig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Aber da wenig darüber geredet wird, dass es ein großer Fehler war, die Erneuerbaren nicht stärker auszubauen, ist die Chance, dass die Krise genutzt wird, um es jetzt besser zu machen nicht groß.
Plötzlich steht wieder die Frage im Raum, ob in Deutschland Fracking-Gas gewonnen werden soll, was erst in einigen Jahren überhaupt zur Verfügung stehen würde.2 Die Atomkraft wird von einigen nicht nur als kurzfristiger Notnagel, sondern ein weiteres Mal als langfristige Strategie propagiert, obwohl dies weder wirtschaftlich noch energiepolitisch Sinn macht und die Frage der Entsorgung sowieso nicht geklärt ist.3
Damit die Energiekrise nicht missbraucht wird, um klimaschädliche Lösungen von gestern wieder salonfähig zu machen, müssen die politischen Maßnahmen so gestaltet werden, dass sie auf die sozial-ökologische Transformation einzahlen. Das gilt auch für die Entlastungen für Bürger:innen und Unternehmen, die neben der Unterstützung in einer finanziell sehr schwierigen Situation auch das Energiesparen, den Klimaschutz oder das Umsteuern auf erneuerbare Energien fördern sollten. Einige Vorschläge, wie eine sozial gerechte und ökologisch sinnvolle Entlastung aussehen könnte, hat die Klima-Allianz von DIW Econ4 ausarbeiten lassen:
Ein Heizkostenzuschuss für die, die es benötigen, statt einem Gaspreisdeckel, damit ein starker Anreiz zum Sparen erhalten bleibt.
Ein 29-Euro-Ticket, zu dessen Finanzierung z.B. ein Wegfall des Dienstwagen-Privilegs heran gezogen werden könnte.
Ein Ersatz der Pendlerpauschale durch einen festen Entfernungszuschuss pro Kilometer Arbeitsweg, sodass auch diejenigen etwas davon haben, die einen langen Arbeitsweg haben, aber (fast) keine Steuern zahlen. Denn von der Pendlerpauschale profitieren die Besserverdienenden sehr stark und ein:e pendelnd:e alleinerziehend:e Geringverdiener:in gar nicht, weil sie nicht genug Geld verdient, um überhaupt Steuern zu zahlen.
Eine Mehrwertsteuerabsenkung auf pflanzliche Nahrungsmittel, die gleichzeitig bei den Lebensmittelkosten entlastet und einen Impuls für eine klimafreundlichere und gesündere Ernährung gibt.
1 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/windkraft-erneuerbare-energien-stromerzeugung-101.html
2 Bis zu einer Förderung im großen Umfang dauert es laut Prof. Dr.-Ing. Moh’d M. Amro (Geoströmungs-, Förder- und Speichertechnik) etwa fünf Jahre: https://www.faz.net/aktuell/wissen/erde-klima/kann-fracking-in-deutschland-das-gas-aus-russland-ersetzen-18344124-p2.html
3 s. auch Blogpost vom 31.10.2021: https://climactivity.de/die-atomkraft-als-klimaretterin/
4 DIW Econ ist das Consuting-Unternehmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (an dem z.B. Claudia Kemfert tätig ist): https://www.klima-allianz.de/presse/meldung/studie-prueft-entlastungsmassnahmen-breites-buendnis-fordert-gerechtes-und-klimafreundliches-entlastungspaket