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Deutschland hat das 1,5-Grad-Ziel schon verfehlt

Uli F Wischnath, Programmkoordinator climactivity

Wusstest du, dass Deutschland keine Chance mehr hat seinen fairen Beitrag zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze zu leisten? Um das zu erreichen müssten die Emissionen bei einer gleichmäßigen Absenkung vom heutigen Stand bis Ende 2028 auf Null abgesenkt werden; warum es 2028 ist, folgt ein bisschen weiter unten.

7 Jahre reichen nicht für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft

Die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten würde also bedeuten, dass all die erforderlichen Umbauten zum Erreichen der Klimaneutralität innerhalb von nur sieben Jahren bewältigt werden müssten. Das ist in Anbetracht dessen, wie weitreichend die Veränderungen sind, die damit einhergehen müssten, nicht machbar. Wir reden hier nicht nur über den Umbau des Kraftwerksparks für die Energieversorgung, sondern auch über fundamentale Umwälzungen in der chemischen Industrie (deren Ausgangsprodukt zum größten Teil Erdöl ist), in der Zement- und Stahlindustrie, in der Automobilindustrie und in den Lebensgewohnheiten von so ziemlich allen Menschen. Dazu kommt der Ausbau von erneuerbaren Energien auf mehr als das Doppelte dessen, was heute an Strom produziert wird, die Schaffung einer klimafreundlichen Verkehrsinfrastruktur und die Umstellung auf eine klimaverträglichen Landwirtschaft. Und weil all das in sieben Jahren nicht zu schaffen ist, hat Deutschland das 1,5-Grad-Ziel de facto schon verfehlt.

Warum nur 7 Jahre? (Ein Ausflug für Zahlenfreund:innen)

Willst du verstehen warum wir schon Ende 2028 klimaneutral sein müssen, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten? Dann musst du einen kleinen Zahlenregen über dich ergehen lassen. Alternativ kannst du mir glauben, dass ich das richtig gerechnet habe, und direkt mit dem nächsten Absatz fortfahren.
Die Rechnung ist wie folgt: Der IPCC hat errechnet, dass ab dem 1.1.2020 noch 400 GtCO2 (Gigatonnen CO2) ausgestoßen werden dürfen, um mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 % die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. Wird dieses CO2-Restbudget gleichmäßig auf die gesamte Weltbevölkerung verteilt1, dann resultiert daraus ein Treibhausgas-Restbudget2 für Deutschland von etwa 4.300 Mio tCO2eq. Davon wurden in den Jahren 2020 und 2021 zusammen schon 1500 aufgebraucht, so dass noch 2800 übrig sind. Bei jährlichen Emissionen von derzeit 770 Mio tCO2eq (20213) führt eine gleichmäßige Absenkung innerhalb von 7 Jahren zu weiteren Emissionen von 2.700 Mio tCO2eq. Traurige Erkenntnis: alles weg bis Ende 2028. Diese Art der Berechnung eines Budgets für Deutschland ist so ziemlich das, was vom Sachverständigenrat für Umweltfragen4 vorgeschlagen und daran anschließend vom Bundesverfassungsgericht als Maßstab verwendet wurde.

1 Für die Weltbevölkerung wird dabei (wg Wachstum in den nächsten Jahrzehnten) von 8,8 Mrd Menschen ausgegangen, für Deutschland von unverändert 83 Mio.
2 Auf das resultierende CO2-Budget wurden für die anderen Treibhausgase noch 14 % aufgeschlagen, um auf das Treibhausgas-Restbudget zu kommen, entsprechend dem Verhältnis zu CO2, in dem sie in DE ausgestoßen werden.
3 https://www.agora-energiewende.de/presse/neuigkeiten-archiv/deutschland-entfernt-sich-2021-vom-klimaziel/
4 https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/01_Umweltgutachten/2016_2020/2020_Umweltgutachten_Entschlossene_Umweltpolitik.html

De facto gibt es kein Bekenntnis zur Einhaltung des Pariser Abkommens

Der Zug für das 1,5-Grad-Ziel ist also abgefahren. Und nun? Es ist endlich an der Zeit, dass sich Deutschland klar dazu bekennt, wenigstens das Budget zur Nicht-Überschreitung (67 % Wahrscheinlichkeit) der 1,7-Grad-Grenze einzuhalten. Mensch sollte denken, dass das eine Selbstverständlichkeit ist, denn diese Grenze wird mit dem Pariser Abkommen gleichgesetzt und das hat Deutschland verbindlich unterschrieben. Dennoch lassen sich weder die Bundesregierung und noch nicht mal die Grünen (SPD, FDP und die Union natürlich auch nicht) darauf ein, sich auf die Einhaltung des zugehörigen Budgets festzulegen. Um innerhalb des Restbudgets zu bleiben, das mit der 1,7-Grad-Grenze verträglich ist, müsste Klimaneutralität bei gleichmäßiger Reduktion der Emissionen in knapp 16 Jahren erreicht sein, also etwa Mitte 2037. Das ist fast 10 Jahre früher, als es das Klimaschutzgesetz derzeit vorsieht (dort steht 2045), und würde auch bedeuten, dass Überschreitungen gegenüber dem Budget-konformem Emissionsszenario durch verschärfte Maßnahmen in der Zukunft ausgeglichen werden müssten. Beides macht die Sache schwieriger und deshalb mag sich wohl auch niemand verbindlich zu diesem Budget bekennen. Aber es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass Deutschland ein größerer Anteil vom Restbudget zusteht, als es seiner Bevölkerung entspricht. Ganz im Gegenteil: Wir haben ja schon in der Vergangenheit immer einen überproportional großen Anteil der Emissionen verursacht. Da wäre es eher gerecht, wenn wir wenigstens vom Restbudget denjenigen Ländern etwas mehr überlassen, für die aufgrund von Entwicklungsbedarf und geringerem Wohlstand ein Umbau zur Klimaneutralität sehr viel schwieriger ist als für Deutschland.

Hilfe beim Klimaschutz für andere Länder: Ein Gebot der Fairness

Wenn Deutschland es schon nicht selber schafft, mit seinem Budget für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze auszukommen, dann sollten wir zumindest alles tun, damit dies global vielleicht doch noch gelingt. Die Chance besteht nur dann, wenn andere Länder, die nicht so viele Emissionen verursachen und verursacht haben, nach Kräften beim Auf- und Umbau einer klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft unterstützt werden. Das hat nicht im Wesentlichen etwas mit großzügiger (Entwicklungs)Hilfe zu tun, sondern ist vor dem Hintergrund der riesigen Menge an Emissionen die Deutschland (wie andere Länder des globalen Nordens natürlich genauso) jetzt verursacht und früher verursacht hat, schlicht ein Gebot der Fairness. Wenn es auf diese Weise z.B. gelingt, dass Indien schon 2050 seine Klimaneutralität erreicht (statt 2070 wie jetzt geplant), dann bleibt vielleicht wenigstens Indien im Rahmen des 1,5-Grad-Budgets und die Welt trotz der Überschreitung im globalen Norden in dessen Nähe.

Und du?

Der Budgetansatz ist auch für Einzelpersonen ein spannender Ansatz. Zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze hätten dir – wie uns allen – dann seit dem 1.1.2020 noch 52 tCO2eq zur Verfügung gestanden. Wenn du nicht weißt, ob das viel oder wenig ist, dann berechne doch mal deinen CO2-Fußabdruck mit dem Rechner des Umweltbundesamtes. Und im nächsten Monat folgt dann ein Blogbeitrag, warum es – trotz all der Mythen, dass der Fußabdruck eine Erfindung von BP ist – gut und wichtig ist, sich damit zu beschäftigen, mit welchen unserer Aktivitäten wir wie viel zur Klimakrise beitragen. Nicht als Alternative zu politischen Veränderungen, sondern als notwendige Begleitmaßnahme.

Uli F Wischnath, Programmkoordinator climactivity